Chancengleichheit in der Bildung – ein Mythos?

Alle | 22. Februar 2022

Gleiche Lebens- und Verwirklichungschancen für alle, so fordert es die Chancengleichheit.

Ob sie meiner Meinung nach erreicht werden kann, werde ich Dir im folgenden Blogartikel darlegen. Er soll Dich auf ein Thema aufmerksam machen, das mir gerade in den pandemiebedingten Zeiten des Homeschoolings bedeutsamer denn je erscheint: Die Soziale Ungleichheit in der Bildung.

Anlass für den Artikel ist mein gleichnamiger Online-Vortrag, den ich in der vergangenen Woche für den Rotaract Club Augsburg halten durfte.

„Ich bin Elena, 25 Jahre alt und als Erzieherin tätig. Meine vier Ausbildungsjahre verbrachte ich in vier Kitas mit unterschiedlichem Klientel - Land, Stadt, arm, wohlhabend - wobei man sagen kann, dass mich die sozialen Brennpunktgebiete magisch anziehen.“

Mit diesen Worten stellte ich mich den Mitgliedern und Gästen des Rotaract Clubs Augsburg vor. Es war die erste Folie meiner Powerpoint-Präsentation und meine Zuhörer, junge Erwachsene verschiedenster Studiengänge und Berufsgruppen, hörten meinen Erzählungen aus dem Berufsalltag gespannt zu.

Als ich im Hort tätig war...

Ich berichtete von meiner Hortarbeit im vergangenen Jahr, als ich in einem städtischen Brennpunktgebiet tätig war. Meine beiden Kollegen und ich betreuten siebzehn Kinder im Grundschulalter. Wir unterstützten sie bei den Hausaufgaben und gestalteten ihre Freizeit für den Nachmittag.

Jedes dieser deutschen Kinder wurde in eine Migrationsfamilie hineingeboren.

Keines von ihnen hatte die erforderlichen Noten für den Übertritt an das Gymnasium oder die Realschule. Das stellte ich am Tag der Zeugnisausgabe, es muss vor etwa einem Jahr gewesen sein, fest. Diese wundervollen Kinder, die ich so für ihre künstlerischen Fähigkeiten, ihr Turntalent und ihre Hilfsbereitschaft bewunderte ... Sie schienen in den drei Hauptfächern Mathe, Deutsch und HSU nicht die Ergebnisse zu erzielen, die von der Gesellschaft anerkannt würden.

Ich wurde wachgerüttelt.

Hatte ich selbst doch den Weg aufs Gymnasium mühelos geschafft und alle Ressourcen im Innen und im Außen gehabt, um letztendlich meinen beruflichen Werdegang frei wählen zu können.

Augenblicklich begann ich zu überlegen, ob auch meine Hortkinder eines Tages einen Beruf ausführen können, der ihren Talenten und Vorstellungen entspricht. Ob sie jemals finanziell gut aufgestellt sein und die ihnen wohlverdiente Anerkennung der Gesellschaft erhalten werden.

Verstehe mich an dieser Stelle nicht falsch. Nicht alle Gymnasiasten werden wohlhabend und nicht allen Mittelschülern bleibt der Erfolg im Leben verwehrt.

"Es gibt keinen Abschluss ohne Anschluss", was im übertragenen Sinne so viel heißt wie: „Auch ein Mittelschüler kann über einen zweiten Bildungsweg sein Abitur erwerben und studieren.“

Doch erfahrungsgemäß ist das die Ausnahme, oder zumindest der "schwierigere" Weg. Denn gerade den sozial benachteiligten Schichten fehlen entscheidende Grundpfeiler für einen höheren Bildungsweg.

Definition: Was bedeutet der Begriff "Chancengleichheit"?

Chancengleichheit meint dieselben Lebens- und Verwirklichungsmöglichkeiten für alle. Jedes Kind bekommt die gleichen Ausbildungs- und Aufstiegschancen – ohne dass es durch seine Herkunft und die sozialen Verhältnisse seiner Familie benachteiligt wird.

"Es muss doch auch Soziale Ungleichheit geben..."

Auch den kritischen Stimmen, die diese Meinung vertreten, kann ich verstehen. Gerade in unserer auf Kapitalismus basierenden Gesellschaft ist es wichtig, dass die verschiedensten Berufsgruppen vertreten sind. Persönlich teile ich die Meinung, dass nicht jeder von uns ein Arzt oder Top-Manager werden kann. Die nette Frau an der Supermarktkasse und die Reinigungskräfte im Bürogebäude sind genauso wichtig für unsere Gesellschaft

Chancengleichheit jedoch erlaubt durchaus Verschiedenheit im beruflichen Aufstieg und in den Einkommensverhältnissen, sofern diese Unterschiede aufgrund der eigenen Leistung erreicht wurden – nicht also die Herkunft über den beruflichen Werdegang eines jungen Menschen entschieden hat. Zur Veranschaulichung stellen wir uns einen Wettlauf dreier Kinder vor. Sagen wir mal, es sind zwei Jungen und ein Mädchen. Die Jungen stammen aus Deutschland und der Türkei, das Mädchen aus Nigeria. Alle von ihnen starten vom selben Startpunkt aus und rennen 100 Sekunden lang, dann bleiben sie stehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden sie nach Ablauf der Zeit an verschiedenen Stellen stehen, vielleicht werden die beiden Jungen das Mädchen um einige Meter hinter sich gelassen haben. Doch dies ist im Sinne der Chancengleichheit kein Problem, denn alle drei Kinder hatten beim Wettlauf - unabhängig von ihrer Nationalität oder ihrem Geschlecht - dieselben Voraussetzungen. Sie sind vom selben Startpunkt aus losgerannt und hatten dieselbe Zeit zur Verfügung.

Der Ist-Zustand in Deutschland

Werfen wir einen Blick auf aktuelle Grafiken und Statistiken, so wird deutlich, dass in Deutschland nach wie vor großer Handlungsbedarf in Bezug auf das Bildungssystem herrscht.

Fakt ist, dass in etwa 74 % der Akademikerkinder* in der sozialen Lage sind, ein Studium aufnehmen zu können, wohingegen es bei den Arbeiterkindern* nicht einmal ein Viertel – schlichtweg nur 21 % - sind.

Welche Gründe liegen dieser Entwicklung zugrunde?


Studium

  • Zwar wird eine Vielzahl an Studiengänge heutzutage kostenlos zur Verfügung gestellt, jedoch sind die Lebenshaltungskosten für einen Studenten (wie zum Beispiel die Finanzierung der Wohnung, Lebensmittel und Lernunterlagen) in der Summe sehr teuer. In der Regel können nur finanziell besser aufgestellte Familien ihre Kinder im Studium unterstützen.
  • Noch dazu sind die meisten Studiengänge vollgepackt und mit hohem Lernaufwand verbunden, weshalb es den Studenten an zeitlichen Ressourcen fehlt, um Lernen und Nebenjob unter einen Hut zu bekommen.
  • Aus diesem Grund ist es keine Seltenheit, dass sich ein junger Erwachsener aus einer sozial benachteiligten Schicht, selbst wenn er ein Abitur erworben hat, für eine Ausbildung entscheidet. Er verspricht sich davon, schneller ein geregeltes Einkommen zu erzielen.
  • In vielen Migrationsfamilien fehlt das Wissen über Finanzierungsquellen (wie beispielsweise über BaFöG oder ein Stipendium) oder sie scheitern bereits an den sprachlichen Hürden, die eine gezielte Recherche hierzu voraussetzt.

Weiterführende Schule

  • Auch auf dem Bildungsweg an einer weiterführenden Schule ist klar im Vorteil, wessen Eltern über gute Sprachkenntnisse und die notwendigen finanziellen Einkommensquellen verfügen, um beispielsweise Nachhilfestunden für ihr Kind bezahlen zu können.

Grundschule - meine beruflichen Erfahrungen

  • Und gehen wir noch einen Schritt zurück, zur Grundschule, so kann ich aus meinen beruflichen Erfahrungen heraus sagen, dass die wenigsten Eltern aus den bildungsferneren Schichten ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen können. Selbst mir fiel es nicht immer leicht, die teilweise abstrakten Aufgaben der höheren Grundschulklassen zu verstehen.
  • Vielen Kindern fehlt – obwohl sie in Deutschland geboren sind und die deutsche Sprache hervorragend sprechen und verstehen können – das Verständnis für die Schriftsprache.
  • Dies führt meinen Beobachtungen nach dazu, dass sich die Probleme durch fast alle Schulfächer ziehen. Denn schließlich kann auch im Fach Mathematik nur derjenige die Sachaufgabe richtig lösen, der verstanden hat, was von ihm gefordert wird.
  • Nicht zuletzt waren die Eltern der Kinder oftmals selbst auf einer Hauptschule (heute: Mittelschule) und vermitteln ihren Kindern wenig Perspektive und Ehrgeiz – was dazu führt, dass die „Schleife“ nicht durchbrochen wird und die Kinder keine Möglichkeiten sehen, einen anderen Werdegang als den der Eltern einzuschlagen.


Die Coronakrise als Katalysator für die Soziale Ungleichheit

Ich denke es dürfte wohl kaum zur Verwunderung führen, wenn ich behaupte, dass die Coronakrise die soziale Benachteiligung vergrößert. Besonders in punkto Bildung sind die finanziell ärmeren Haushalte und die Migrationsfamilien klar im Nachteil.

Wir erinnern uns, im ersten und im zweiten Lockdown wurden die Kinder von Zuhause aus unterrichtet. Vielen Familien fehlte es bereits an den Basics für einen gelingenden Homeschool-Unterricht, wie die technischen Voraussetzungen: Vor allem jüngere Schulkinder besitzen oftmals keinen eigenen Laptop, es gibt nur eine langsame WLAN-Verbindung und im ganzen Haushalt keinen Drucker. Einige Kinder haben zudem mit schwierigen Wohnverhältnissen zu kämpfen, sie werden durch jüngere Geschwister vom Lernen abgelenkt oder finden bei Alltagslärm im Mehrfamilienhaus keine ungestörte Arbeitsatmosphäre.

Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass den Kindern während der Coronazeit das Lernen in der Gemeinschaft und die sozialen Kontakte fehlen. Lernmotivation, psychische Gesundheit und das soziale Miteinander leiden darunter und sinken in den Keller. Ein Großteil der Schüler erhält durch die Eltern unzureichende Lernunterstützung, da sie in den meisten Fällen selbst ihrer Arbeit nachgehen müssen oder schlichtweg keine Ersatzlehrer sein können.

Chancengleichheit ist gleich Mythos?

Ja, Chancengleichheit ist meiner Meinung nach ein Mythos, eine Utopie, ein Ideal das nicht vollkommen erreicht werden kann. Soziale Ungleichheit wird es immer geben.


Und dennoch sollte sich ein Jeder darüber bewusst sein, dass er trotzdem einen Unterschied machen kann. Indem er an seinen eigenen Verhaltensweisen schraubt und sich darüber bewusst wird, dass er durch seine eigene Einstellung den Benachteiligungen durch Migration, das Geschlecht oder durch anderweitige Exklusionsmerkmale entgegenwirken kann. Zwar ist dies in den meisten Fällen ein längerer Prozess, der sich jedoch in jedem Fall Früchte tragen wird. Wer sofort etwas bewirken möchte, der kann zum Beispiel an die Chancenstiftung spenden, die benachteiligten Schulkindern gezielten Nachhilfeunterricht ermöglicht (Link: Spendenformular - Chancenstiftung).


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*Akademikerkind = mindestens ein Elternteil hat selbst eine akademische Ausbildung, z.B. ein Studium absolviert

*Arbeiterkind = die Eltern besitzen ein geringeres Einkommen, soziales Ansehen und Bildungschancen


Quellen


https://mediendienst-integration.de/integration/bildung.html

https://www.youtube.com/watch?v=Yhc1amCj7FI

https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/174634/chancengleichheit

https://im.baden-wuerttemberg.de/de/migration/auslaender-und-fluechtlingspolitik/

http://www.nds-zeitschrift.de/nds-4-2016/chancengleichheit-oder-chancengerechtigkeit


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