Frühfördermaßnahmen für Kinder – wann sind sie sinnvoll?

Alle | 4. August 2022

Klar lieben Eltern ihre Kinder wie sie sind. Klar wissen sie eigentlich, dass ihre Kinder von Geburt an genau richtig so sind, wie sie eben sind.

Und dennoch … Bekommen Eltern von der Umgebung vermittelt „Mit deinem Kind stimmt etwas nicht“, so wird dieses tief verankerte „Genaurichtigso“ schnell mal über Bord geworfen und die Eltern stürzen sich sogleich in die Tiefen eines großen, weiten Sorgenmeers.

Von Therapie bis Frühfördermaßnahmen für Kinder - von Angeboten wie diesen wimmelt es regelrecht. Doch warum werden einem diese manchmal schneller aufgedrückt, als man überhaupt A und B sagen kann? Und ab wann macht es wirklich Sinn, sein Kind auf eine Verhaltensauffälligkeit testen zu lassen?


Welche Sorgen haben Eltern?

Ich treffe immer wieder auf Eltern, die sich bezüglich des Entwicklungsstandes ihres Kindes große Sorgen machen. Besonders häufig übrigens in den ersten drei Jahren, wenn alles für die Eltern noch neu ist und es viele erste Male gibt. Hinzu kommt der Vergleichsrausch mit anderen Familien, in den Eltern oft ganz automatisch hineingeraten. Lilly von nebenan beherrscht schon viele Wörter mehr als mein Tim. Alle Kinder in der Krippe bleiben im Morgenkreis sitzen, nur mein Kind kann das nicht!

Klar wollen Eltern möglichst gelassen bleiben und ihrem Kind Zeit geben.

Doch leichter gesagt als getan.

Wenn da nur nicht die Angst wäre, dass sie etwas versäumen und das Kind womöglich nicht mitkommt in der Gesellschaft - wenn es nicht alles erfüllt, all die Erwartungen, die an einen Menschen eben so gestellt werden.

Andererseits, nur die Ruhe: Vergleichen ist nun mal das, was Menschen in einer Gesellschaft tun.


Therapie und Fördermaßnahmen – wann sind sie sinnvoll?

Wenn man von Kita oder Kinderarzt gesagt bekommt, dass mit dem eigenen Kind etwas nicht stimmt, kann einem das im ersten Moment den Boden unter den Füßen wegziehen. Die Eltern stehen vor der Frage: Soll ich das auffällige Verhalten meines Kindes untersuchen lassen?

Ich habe in meinem damaligen Beruf als Erzieherin mehrere Familien begleitet, bei denen die Eltern die – zugegeben nicht ganz leichte - Entscheidung zu treffen hatten, ob sie ihr Kind auf Verhaltensauffälligkeiten testen lassen möchten oder nicht.

Ich werde dir nun aus meiner Erfahrung heraus berichten, welche Gründe dafür oder dagegen sprechen können, Kinder einem solchen Diagnoseprozess zu unterziehen.

Vorab sei gesagt: Ich sage nicht, dass Therapien und Fördermaßnahmen sinnlos sind und spreche nicht (!) grundsätzlich gegen diese Maßnahmen.

Im Gegenteil, ich bin hierbei in den vergangenen Jahren auf Eltern mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen gestoßen. Manche sind erleichtert und froh, wenn ihr Kind zum Beispiel die Diagnose „ADHS“ erhält – weil sie nun endlich das Gefühl haben zu wissen, wo sie ansetzen können. Und weil ihnen „mit dieser Diagnose endlich geholfen werden kann“.

Andere Eltern hingegen sind noch stärker verunsichert, als sie es sowieso schon waren. Sie entscheiden sich aus Angst vor dem „Stempel“, der den Kindern nun vielleicht lebenslang aufgedrückt werden könnte, gegen eine frühzeitige Diagnose. Ein weiterer Grund, warum sich Eltern dagegen entscheiden, ist, weil sie ihr Kind vor dem oft langwierigen Prozess – dem Diagnosezirkel, der oftmals entsteht – schonen wollen.


Warum „Je schneller, desto besser“ nicht immer greift

In vielen Fällen konnte ich beobachten, dass das Motto „Je schneller, desto besser“ nicht immer greift. Denn Diagnosen auf potenzielle Verhaltensauffälligkeiten haben gerade bei Kleinkindern eine sehr hohe Fehlerrate, da gerade diese oft noch einen großen Entwicklungssprung vor sich haben und hier vereinfacht gesagt die Grenze zwischen „was ist normal“ und „was ist auffällig“ nur schwer gezogen werden kann.


"Kinder sind wie Fische in einem trüben Wasser"

Was ich außerdem spannend finde: Bevor eine Frühfördermaßnahme genehmigt werden kann, muss in den meisten Fällen erst einmal eine Diagnose vorgelegt werden. Die Diagnose über eine Verhaltensauffälligkeit ist also die Grundvoraussetzung dafür, dass das Kind überhaupt gefördert werden kann.

Dies kann dazu verleiten, die Diagnose recht schnell zu stellen, ohne das jeweilige Kind genauer betrachtet und die Ursachen für sein Verhalten erkannt zu haben. Das Kind wird dann behandelt, ohne seine Umgebung und die Faktoren, die auf es einwirken, genauer unter die Lupe genommen zu haben.

Katia Saalfrank stellt an dieser Stelle einen Vergleich an und spricht von Kindern als "Fische in einem trüben Wasser". Gerne möchte ich dir diesen abschließend nacherzählen:

Stelle dir einmal vor, dein Kind ist ein Fisch im Wasser. Dieser Fisch wächst gesund und fröhlich voran. Dies kann der Fisch nur, wenn das Wasser klar und in einem ökologischen Gleichgewicht ist. Im Wasser sind alle notwendigen Nährstoffe, die der Fisch braucht, um sich gut zu entwickeln. Wenn der Fisch eines Tages nicht mehr gut heranwächst, untersuchen wir die Ursache und schauen uns die Qualität des Wassers an:


Sind alle Nährstoffe vorhanden?

Kommt es vielleicht zu einem ökologischen Ungleichgewicht?

Oder werden gar Giftstoffe ins Wasser gegeben?


Übertragen wir dieses Bild nun auf die Kinder:

In unserer Gesellschaft ist es häufig so, dass wir weniger die Umgebung betrachten, als vielmehr die Fische, also die Kinder selbst „behandeln“. Oft werden sehr früh Therapien und Fördermaßnahmen angesetzt.

Und das meist, ohne dass wir überprüfen, ob bestimmte emotionale „Nährstoffe“ in den Beziehungen vorhanden sind – wie zum Beispiel Geborgenheit, Wärme, Sicherheit. Das Problem ist, dass wir häufig nicht wieder die Umgebung mit Nährstoffen versehen sondern die Kinder dazu animieren, dass sie ohne die Nährstoffe ihre eingetrübte Umgebung besser vertragen. Bei den Kindern kommt dann an: „Ich bin nur okay, wenn ich funktioniere.“

Macht das wirklich Sinn?




Quellen:



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