Konsistenz statt Konsequenz – Müssen wir Kinder erZIEHEN?

Achtsam sprechen mit Kindern, Bindungs- und Beziehungsorientiert | 1. Mai 2022

Oder: Müssen wir Kinder erZIEHEN?


Vor kurzem in der Umkleidekabine meines Fitnessstudios. Zufällig war ich Zuhörerin eines Gesprächs zweier Frauen. Mein Training war bereits beendet und ich war gerade dabei, mir die Schuhe zuzuschnüren, als sich die beiden hinter mich stellten und ihre Unterhaltung fortführten. So sagte die erste Frau:

„Ich habe meinem Sohn früher alles durchgehen lassen, aber seit ein paar Jahren mache ich das nicht mehr! Denn er weiß genau wie er mich im Griff hat, seine Lehrer ebenso! Wenn er sich Zuhause so aufführt, dann schicke ich ihn erstmal in sein Zimmer, bis er wieder normal ist. Ohne Laptop natürlich. Soll er doch nachdenken was er getan hat.“


Ihre Gesprächspartnerin nickte und stimmte ihr zu: „Meine Tochter ist mittlerweile erwachsen, aber ich habe das früher auch so gemacht. Konsequent sein … Die merken sonst ganz schnell, dass sie uns auf der Nase herumtanzen können!“.

„Interessant“, war mein erster Gedanke, „interessant, welches Bild vom Kind noch heutzutage in den Köpfen vieler Menschen vorhanden ist“. Ein als Monster verkleidetes Kind, das vulkanartig ausbricht und wutentbrannt mit einem Vorschlaghammer hantiert? Oder ein Kind im purpurroten Königsmantel, das machtvoll auf dem Sofa thront und auf seine knienden Eltern im Bettlergewand herabblickt? Ich schüttelte gedankenversunken meinen Kopf, um das in mir entstandene Kopfkino, das sich so falsch anfühlte, wieder zu beenden.

Da mich das Gespräch der beiden Frauen noch im Nachgang beschäftigt hat, möchte ich mit dir in meine Gedankenwelt eintauchen. Ich stelle Vermutungen an, wie sich die Kinder der beiden Frauen gefühlt haben könnten. Und ich gebe eine Einschätzung, was in den meisten Fällen dahintersteckt, wenn Eltern Äußerungen dieser Art von sich geben. Los geht’s!


Der Verantwortungsvolle Umgang mit der elterlichen Macht

In meinem nacherzählten Gesprächsauszug aus dem Fitnessstudio wird für mich deutlich, dass die Mutter des Sohnes ihre Macht als Elternteil behalten und um keinen Preis verlieren möchte. Wir wissen nicht, welchen (subjektiven) „Regelverstoß“ ihr Sohn geleistet hat und was genau sie mit ihren Worten ("er führt sich auf")* meint. Doch was wir zwischen den Zeilen herauslesen können, ist die Angst davor, die Kontrolle über ihr Kind zu verlieren. Sie verlangt, dass ihr Sohn sich nach ihrem Willen beugt und wendet eine Methode an, um ihr Ziel machtvoll durchzusetzen: Er wird, ob er will oder nicht, in sein Zimmer verfrachtet. Hier geht der Kontakt zum Kind verloren und die Verbindung wird unterbrochen.

Wir können an dieser Stelle davon ausgehen, dass die Mutter in ihrer eigenen Kindheit Erfahrungen mit derartigen Erziehungsmethoden gemacht, nicht reflektiert hat und diese nun nachahmt. Auch scheint sie an einer eher traditionellen Machtstruktur festzuhalten, in der die Mutter bzw. der Vater stets über das Kind bestimmen. Auch wenn ich dieser Ansicht nicht zustimmen kann: In einem Aspekt gebe ich ihr Recht. Eltern sind tatsächlich Inhaber der sogenannten elterlichen Macht. Kinder sind gleichwertig, doch gleichberechtigt sind sie nicht. Der Grund hierfür liegt darin, dass sie bestimmte Entscheidungen noch nicht alleine treffen können und die Eltern hier die Verantwortung für ihr Wohlergehen übernehmen - aus Liebe. Ziel ist es allerdings, was der Mutter in unserem Beispiel nicht gelungen sein mag, sich als Eltern seiner elterlichen Macht bewusst zu sein UND diese nicht auszunutzen. Damit die konstruktive Beziehung zum Kind nicht auf der Strecke bleibt, ist es wichtig, einen verantwortungsvollen Umgang damit zu pflegen.


Die versteckte Botschaft der Gehorsam

In unserem Beispiel verlangt die Mutter, dass das Kind ihren Anweisungen folgt und nun in sein Zimmer geht. Der dahinterliegende Wunsch dieser Erziehungsmethode ist es, dass das Kind das unerwünschte Verhalten in Zukunft nicht mehr zeigt (sonst droht Konsequenz!).

Gehorsam verlangen heißt in den meisten Fällen jedoch auch, dass über die Gefühle und Bedürfnisse des Kindes hinweggesehen wird. Wir sollten an dieser Stelle bedenken, dass sich der Sohn in seinem Anliegen und als Person nicht ernst genommen fühlt. Die Botschaft, die an ihn herangetragen wird, könnte lauten:

  • „Wer nicht hören will, muss fühlen“

  • „Du musst lernen, dich unterzuordnen“

  • „Wenn ich etwas sage, musst du gehorchen“

Wie fühlt es sich für dich an, wenn du diese Sätze liest? Spüre einmal in dich hinein. Wenn ich sie lese, fühle ich mich bedrückt und ich merke in meinem Brustraum, wie es mir schwerer fällt zu atmen. Vielleicht ergeht es dir ähnlich wie mir.


Jedes Verhalten hat einen Sinn

Immer wieder unterliegen wir dem gleichen Irrtum und meinen, Kinder erZIEHEN zu müssen. Mit der Betonung auf dem Wort ZIEHEN stelle ich mir hier ein Kind vor, dass an Armen und Beinen in sämtliche Richtungen von den Erwachsenen gezogen wird. Oder auch: Erwachsener und Kind ziehen gegeneinander an einem Seil und es reißt. Dies steht für mich sinnbildlich für die meisten Erziehungsmethoden, mit denen wir das Verhalten der Kinder ändern wollen - nach unserem Willen, natürlich. Und auf Kosten der Beziehung, die nämlich reißt.

Oft ignorieren wir beim erZIEHEN, dass jedes Verhalten von Kindern einen Sinn hat, auch wenn wir diesen nicht oder nicht gleich verstehen können.

Was in unserem Gesprächsauszug ebenso auffällt, ist die Beurteilung der Mutter über das Verhalten ihres Kindes (= Das Kind „führt sich auf“).Würde die Mutter weniger das Verhalten, sondern mehr das Symptom beurteilen, so könnte sie die dahinter liegenden, seelisch-emotionalen Prozesse begreifen und letztendlich das Kind in seinem Anliegen ernst nehmen. Mögliche Fragen, die sich die Mutter stellen könnte, wären:

  • „Warum verhält sich das Kind so?“

  • „Welche Persönlichkeit, welche Wünsche und Bedürfnisse verbergen sich hinter dem Verhalten?“

Sofort würden wir in tiefere Schichten gelangen und feststellen, dass sich das Kind zum Beispiel unsicher, nicht gesehen oder einsam fühlt. Es würde ein ganz anderes Bild vom Kind entstehen.


Regeln Regeln das Familienleben?

Viele Erwachsene denken, dass sie mit Regeln und Konsequenzen das Familienleben besser „in den Griff“ bekommen. So auch die Mutter aus dem Fitnessszenario. Sie verhängt ein Laptopverbot mit der Vorstellung, dass sich das Verhalten des Sohnes ändern wird. Das könnte in einigen Fällen tatsächlich eine Verhaltensänderung hervorrufen, was verlockend sein mag. Doch diese Veränderung ist meist nur von kurzer Dauer, und was wir nicht vergessen dürfen: Die konstruktive Beziehung bleibt auf der Strecke.Denn die Beziehung zwischen Eltern und Kind wird hier unpersönlich. Eltern werden zu Ordnungshüter und Richter. Ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit wird sich hier nicht einstellen. Je weniger Regeln und Konsequenzen ein Familienleben benötigt, desto besser.


Konsistenz statt Konsequenz

Um der Konsequenz willen konsequent zu sein (und den Kindern damit Sicherheit geben zu wollen), ist einer der größten Erziehungsirrtümer und endet schnell in einem kräftezerrenden Machtkampf.

Eine Angst der Gesellschaft ist es, dass das Kind die „Lücke ausnutzt“, die manchmal entsteht, wenn wir auf das Weinen oder Protestieren eines Kindes empathisch eingehen, nach den Ursachen forschen und deshalb nachgeben. Viele Eltern haben Angst, dass das Kind sie dann für immer beherrschen wird. Das Kind lernt hier aber nicht: „Juhuu, ich kann meinen Eltern auf der Nase herumtanzen“ (sowas denken Kinder nicht), sondern eher: „Meine Mutter/Mein Vater nimmt meine Bedürfnisse ernst“.

Daher eröffne ich die Bühne für die Konsistenz, welche bedeutet, dass die elterliche Haltung mit den entsprechenden Handlungen im Einklang steht und sich nicht widerspricht. Dies vermittelt den Kindern Sicherheit und Orientierung, die wir zuvor vermeintlich mit den konsequenten Verhaltensweisen erreichen wollten.


Das Wichtigste auf einen Blick:

  1. Kinder sind gleichwertig, aber nicht (immer) gleichberechtigt. Für viele Dinge können sie noch nicht die volle Verantwortung tragen.

  2. Eltern sind Inhaber der elterlichen Macht. Der verantwortungsvolle Umgang damit zählt zu ihren wichtigsten Aufgaben.

  3. Wer gehorsam verlangt, der sieht über die Gefühle und Bedürfnisse des Kindes hinweg.

  4. Je weniger Regeln ein Familienleben benötigt, desto besser.

  5. Kinder denken sich nicht: Juhuu, ich kann meinen Eltern auf der Nase herumtanzen.

  6. Konsistenz statt Konsequenz. Dies vermittelt den Kindern Sicherheit und Orientierung – ohne, dass die Beziehung darunter leiden wird...



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Quellen


Katharina Saalfrank. (1. Auflage 2020). Gräfe und Unzer - Verlag. Du bist ok, so wie du bist.


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