Die nachgeburtliche Geschwisterkrise – warum verhält sich mein Kind nun anders?

Bindungs- und Beziehungsorientiert, Familienalltag, Katia Saalfrank | 2. November 2022

Wird ein neues Geschwisterkind geboren, so bringt dies für alle Beteiligten einige Veränderungen mit sich. Gerade die Routinen des Alltags ändern sich, wenn nun ein Baby im Haus ist. Dies betrifft unter anderem die Morgenzeit, das Einnehmen der Mahlzeiten, die Pflege, das Einschlafen und auch die nächtliche Ruhezeit. Eltern und Neugeborenes müssen sich erst finden und es erhält nun sehr viel Zuwendung und Aufmerksamkeit. Diese Situation geht vor allem an einem nicht spurlos vorbei: dem erstgeborenen Kind. Dieses steckt in einem emotionalen Dilemma. Auf der einen Seite möchte es sich genau so freuen wie die Erwachsenen es tun, gleichzeitig fühlt es etwas ganz anderes: nämlich den Verlust.

In diesem Blogartikel erkläre ich dir die typischen Verhaltensweisen, die dein*e Erstgeborene*r in dieser Phase entwickeln kann. Außerdem erfährst du die Ursachen dafür, damit du das Verhalten deines Kindes wieder besser verstehen kannst.

Typische Verhaltensweisen in dieser Phase

Aggression, Provokation, Regression

Gerade in den ersten Monaten und Jahren nach der Geburt des Zweitgeborenen kommt es in vielen Fällen zu Verhaltensänderungen beim erstgeborenen Kind. Während dieser Phase kann es vorkommen, dass das ältere Kind häufiger als zuvor jammert, sich zurückzieht oder Verhaltensweisen zeigt, die von den Bezugspersonen als Provokation wahrgenommen werden. Oder es imitiert das Baby und fordert nun ständig Hilfe ein ("Es wird wieder zum Baby"), möchte zum Beispiel getragen und angezogen werden. Eine der häufigsten Verhaltensweisen, von der mir meine Klientinnen in den Coachings erzählen, ist die Aggression. Diese kann sich beispielsweise gegen die Eltern, weitere Bezugspersonen, gegen das Geschwisterkind oder gegen andere Kinder richten. Das erstgeborene Kind haut, beißt oder kratzt seine Mitmenschen.

Ursachenforschung: Das steckt dahinter

Das Eisbergmodell nach Katia Saalfrank

Die Bindungs- und Beziehungsorientierte Pädagogik nach Katia Saalfrank ist eine Haltung, die die konstruktive Beziehung zwischen Eltern und Kind in den Mittelpunkt rückt.

Katia Saalfrank beschreibt diese wie folgt: „Die von mir in dieser Form selbst entwickelten Pädagogik legt zum einen den Schwerpunkt auf die Verbindung zu sich selbst und zum anderen auf die Bindung und die konstruktive Beziehung zum Kind. Zum anderen richtet sie den Fokus auf die tieferliegende Bedeutung von Handlungsweisen und zeigt so eine andere Perspektive auf das Verhalten insgesamt.“

Eisbergmodell nach Katia Saalfrank gestaltet von Elena Sedlmeyr

Dies wird durch das von Katia Saalfrank in dieser Form entwickelte Eisbergmodell deutlich, das der Bindungs- und Beziehungsorientierten Pädagogik zugrunde liegt. Es handelt sich hierbei um ein 3-Stufen-Modell, welches sich in die

  • Verhaltensebene (Was wir sehen/was wir tun),
  • die emotionale Ebene (Welches Gefühl liegt darunter?)
  • und die Bedürfnisebene (Welches emotionale Grundbedürfnis liegt darunter?)

untergliedern lässt. Wut, Angst, Schmerz und Trauer – all das sind häufige Gefühle, die Erstgeborene zum Ausdruck bringen, wenn ein neues Baby in die Familie hineingeboren wird. Diese Gefühle sind Hinweise auf die tief verwurzelten Basis-Grundbedürfnisse Sicherheit, Verbindung und Autonomie, auf die ich im Folgenden näher eingehen werde.

Die drei Basis-Grundbedürfnisse

Sicherheit

Die Sicherheit ist das Basis-Grundbedürfnis, auf die die beiden anderen zurückgeführt werden können. Denn letztendlich geht es immer um die Sicherheit. Hierbei wird unterschieden zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit in Zeit und Raum und nach der emotionalen Sicherheit. Letztere meint, dass sich das Kind innerhalb seiner Beziehungen sicher fühlt. Denn wie oben bereits genannt, erleben die Geschwisterkinder beim Hinzukommen eines Bruders oder einer Schwester einen Verlust. Sie haben die Hälfte verloren von dem, was sie in den Jahren und Monaten zuvor von ihren Eltern bekommen haben und stecken nun in einem emotionalen Dilemma.

Hinzukommt, dass vor allem Kinder im Kleinkindalter ihre emotionale Not nicht differenziert mit Worten ausdrücken drücken. Aus diesem Grund greifen sie auf Verhaltensweisen zurück und werden „schwierig“. Beispielsweise häufen sich die Wutanfälle oder die Aggression der Kinder. Oder die Kinder verlieren die Sicherheit darüber, dieselben Rechte zu haben wie das Neugeborene und zeigen regressives Verhalten. All dies dient dazu, den Schmerz, den Frust und die Sehnsucht nach den primären Bindungspersonen zum Ausdruck zu bringen.

Verbindung

Wie oben aufgeführt, befinden sich die erstgeborenen Kinder oftmals in einem emotionalen Dilemma. Denn alle anderen freuen sich auf das Geschwisterkind und sind glücklich darüber, dass jemand hinzukommt. Das Kind möchte sich mit den anderen verbinden und dasselbe fühlen, doch das Gegenteil ist oftmals der Fall. Dies bemerken viele Eltern, doch nicht allen von ihnen gelingt es, die Sicht des Kindes zu verstehen. Es fallen Sätze wie: „Freust du dich denn gar nicht?“, die eine Erwartung schüren und dazu führen, dass sich die Kinder unverstanden fühlen. Durch dieses Nicht-Verstanden-werden erlebt es hier eine Trennung zu ihren Bezugspersonen. Auch wenn die Erstgeborenen nun plötzlich Hilfe einfordern bei Dingen, die sie eigentlich schon können, so suchen sie nicht nach einer Anleitung, sondern nach Verbindung zu den Bezugspersonen (plus der emotionalen Sicherheit, noch immer geliebt zu werden).

Autonomie

Das psychische Grundbedürfnis nach Autonomie beschreibt die Selbstverwirklichung, die für die gesunde Entwicklung von Kindern sehr wichtig ist. Vor der Geburt des Geschwisterkindes hat das Kind sein Lieblingsbuch geholt und es seiner Mama entgegengestreckt. Selbstbestimmt hat es entschieden, dass es nun lesen möchte und sich seine Lesepartnerin, nämlich die Mutter, ausgesucht. Diese hat die Entscheidung des Kindes angenommen, indem sie dem Kind nun vorgelesen hat. Nun passiert es vielleicht, dass das Kind das Buch entgegenstreckt und es erst einmal zu hören bekommt: „Warte mal, ich muss erst noch deinen Bruder wickeln!“ oder „Schätzchen, ich kann dir jetzt nicht vorlesen – Lia weint. Geh doch schonmal spielen.“ Zugegeben, es gehört sicherlich nicht zu den leichtesten Aufgaben, mehreren Kindern gleichzeitig gerecht zu werden. Doch es gibt Möglichkeiten und Wege. Falls du dir noch schwer tust, diese zu finden, lass uns gerne in einem Coaching einen Blick auf eure Situation werfen.

In meinem nächsten Blogartikel erfährst du von mir, wie du auf das Verhalten deines erstgeborenen Kindes reagieren kannst - ganz im Sinne der drei Basis-Grundbedürfnisse.

Kostenloses Kennenlerngespräch Elena Sedlmeyr

Quellenangaben:

Saalfrank, K. (2021). Die Reise zur glücklichen Eltern-Kind-Beziehung. Dein Kind und dich besser verstehen, Weinheim Basel

Graf, D., Seide, K. (2014). Die nachgeburtliche Geschwisterkrise - wenn ältere Geschwister entthront werden.(letzter Zugriff am 20.10.2022)

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